Der größte Abtreibungsmythos überhaupt lautet: „Beim Thema ‚Abtreibung‘ gibt es nur Schwarz oder Weiß.“ Oh, wenn es doch nur so einfach wäre!
Leider ist dieses sensible Thema fürchterlich facettenreich und vielfältig an Grautönen. Wir haben für euch die gängigsten Abtreibungsmythen näher betrachtet und möchten euch unsere Gedanken dazu vorstellen, die auf unseren langjährigen Beratungserfahrungen basieren:
Falsch. Obwohl man vielerorts nicht müde wird zu behaupten, bei einem Schwangerschaftsabbruch werde lediglich Schwangerschaftsgewebe / ein Zellhaufen / eine leere Fruchtblase entfernt, sagt uns die Wissenschaft etwas anderes.
Ein Embryo in der 9. SSW (das ist der Zeitpunkt, bis zu welchem ein chemischer Schwangerschaftsabbruch mittels Abtreibungspille (Mifegyne® / RU-486) erfolgen darf) hat
- ein schlagendes Herz (ungefähr seit der 5. SSW),
- (noch kurz ausgebildete) Arme und Beine,
- bereits erste Farbpigmente in den Augen.
Ein Fötus in der 14. SSW (das ist der Zeitpunkt, bis zu welchem ein chirurgischer Eingriff erfolgen darf)
- hat bereits eine Größe von 7-8 cm (!),
- verfügt über einen fertig ausgebildeten Körper (alles muss nur noch wachsen); selbst Augen, Lippe, Nase, Kinn sind erkennbar,
- trainiert kräftig seine Muskeln (saugt z. B. am Daumen oder schneidet Grimassen).
Es ist fahrlässig, den betroffenen Frauen vehement etwas anderes einzureden. Frauen in einem Schwangerschaftskonflikt haben das Recht auf ehrliche Worte, und zwar vor der Entscheidung und nicht erst danach, wenn es zu spät ist.
Korrekt. ABER:
- Kein Verhütungsmittel ist hundertprozentig sicher. Eine Schwangerschaft kann sich trotz gewissenhafter Verhütung immer einstellen. Und das kann jede Frau treffen, egal, wie umsichtig sie sich verhalten hat.
- Verhütung ist nicht nur Sache der Frau. Der Sexualpartner hat hier 50 % Anteil an der Verantwortung. Nicht selten passiert es, dass der Mann sich gegen Kondome sträubt und hinterher auf Abtreibung drängt.
- Hartherzige und verurteilende Worte sind in dieser Thematik absolut fehl am Platz. Keiner von uns handelt immer perfekt; der „Eifer des Gefechts“ ist sicherlich jeder und jedem von uns bekannt. Es ist daher unnötig und kontraproduktiv, sich mit Besserwisserei über andere Menschen zu stellen.
Eine Frau, die einen Schwangerschaftsabbruch machen lässt, ist vor allem erstmal eines: in einer Notsituation. Oft hören wir von Frauen während des Beratungsprozesses, dass sie eigentlich Zeit ihres Lebens gegen Abtreibungen gewesen seien. Doch es ist immer leichter, von außen auf ein solch sensibles Thema zu blicken und sich eine Meinung zu bilden („Natürlich würde ich das Kind behalten, wenn mir das passieren sollte. Es kann doch nichts dafür!“). Die meisten Frauen können sich jedoch an mindestens eine Gelegenheit in ihrem Sexualleben erinnern, in der sie nervös und bibbernd auf ihre Regelblutung gewartet haben und in der die Gefühle und besonders die Angst Achterbahn gefahren sind. Plötzlich wird die eigene Haltung zum Thema auf eine harte Probe gestellt. Selbst in der Situation ist es für viele nicht mehr ganz so leicht, zu 100 % gegen Abtreibungen zu sein, selbst wenn man sie eigentlich ablehnt. Denn ungeplant schwanger zu werden, ist fast immer ein Schock (sogar für Frauen, die eigentlich einen Kinderwunsch haben!).
Wir von vitaL verstehen es daher als unsere Aufgabe, die Betroffenen in dieser Schocksituation anteilnehmend zu begleiten. Wir lassen uns auf die persönliche Situation der Frauen oder Familien ein und versuchen uns einzufühlen in die seelische Not, der sie sich gerade ausgesetzt sehen. Die Frauen benötigen Zeit, um den Schock zu verarbeiten, und sie benötigen Verständnis für ihre Situation. Abtreibungen nehmen dem Kind das Leben und verletzen und erschüttern viele Frauen stark in ihrem Inneren. Und doch gibt es Situationen, in denen man nicht weiß, wie es weitergehen soll, z. B.:
- Die alleinerziehende Frau hat bereits mehrere Kinder, ist arm. Eines der Kinder vielleicht mit Behinderungen, deren Berücksichtigung die ganze Energie der Frau aufzehren.
- Die Frau leidet an einer unheilbaren Krankheit.
- Die Frau wird vom Partner oder Ex-Partner zur Abtreibung genötigt, gedrängt, erpresst.
Und selbst scheinbar „banalere“ Situationen können die Schwangere in eine tiefe Krise führen. Sie brauchen daher unsere Empathie und bedingungslose Annahme, um diese Krise konstruktiv zu bewältigen.
Eine Abtreibung ist nie harmlos. Einer der Beteiligten lässt bei diesem Vorgang sein Leben. Dass es sich hierbei um einen Menschen und nicht um einen Zellhaufen handelt, haben wir (und die Wissenschaft vor uns) an anderer Stelle bereits ausgeführt.
Auch für die Frau ist ein Schwangerschaftsabbruch kein harmloser Prozess. Natürlich erlebt nicht jede Frau eine Abtreibung traumatisch. Nicht jede Frau verfällt hinterher in Depressionen oder leidet stark. Und doch lässt sich nicht leugnen, dass ein Schwangerschaftsabbruch viele Frauen in tiefe Krisen führt, die sich über Jahre oder sogar Jahrzehnte erstrecken können. Manche kommen nie darüber hinweg.
Die Abtreibungspille (Mifegyne® oder auch: RU-486) birgt naturgemäß nicht die Risiken einer operativen Methode (z. B. die der Vollnarkose). Doch gerade in psychischer Hinsicht kann die Abtreibungspille weitaus belastender sein als ein operativer Eingriff:
- Der Abtreibungsprozess erstreckt sich über mehrere Tage, die die Frau weitestgehend allein zu Hause durchleben muss. Starke Blutungen und Schmerzen können auftreten und ebenso starke Ängste auslösen.
- Die Frau bekommt alles „live“ mit. Die Bilder, wie der tote Embryo ausgestoßen und in der Toilette heruntergespült wird, können sich ins Gehirn „einbrennen“ und die seelische Gesundheit der Frau beeinträchtigen.
- Die Betroffene übernimmt bei dieser Methode den „aktiven Part“. Denn sie nimmt die Tabletten selbst ein und initiiert damit den Sterbeprozess ihres Kindes. Auch diese Gewissheit kann zur Belastung für die Frau werden. Es ist wichtig, dies vor der Entscheidung im Blick zu haben.
Für moderne Humanbiologen steht inzwischen unmissverständlich fest, wann menschliches Leben beginnt: Es beginnt mit der Vereinigung von Ei- und Spermienzelle und entwickelt sich von nun an stetig weiter. Es scheint daher verwunderlich, dass es auch heute noch Menschen gibt, die behaupten, das Leben beginne erst mit der Geburt (oder zu einem nach eigenem Gutdünken festgelegten Zeitpunkt, wie z. B. nach der 14. SSW oder wenn das Kind außerhalb des Mutterleibes ohne medizinische Geräte leben kann).
Dabei gibt uns die moderne Technik heute auch schon vor der Geburt Einblicke in die Lebenswelt des ungeborenen Menschen. So können wir mit eigenem Auge sehen, dass der Mensch auch schon vor der Geburt mit allen körperlichen Merkmalen ausgestattet ist. Das Herz beginnt in der 3. Entwicklungswoche (= 5. SSW) zu schlagen. Selbst die Finger lassen sich im Mutterleib mit technischen Geräten erkennen, und dies schon zu einem Zeitpunkt, an dem ohne weiteres noch ein Schwangerschaftsabbruch durchgeführt werden kann.
Auch in diesem Punkt sind wir den von einem Schwangerschaftskonflikt betroffenen Menschen zu einer ehrlichen Antwort verpflichtet: Bei einem Schwangerschaftsabbruch wird das Leben eines ungeborenen Menschen beendet. Eine selbstbestimmte Entscheidung basiert auf ehrlichen Worten.
Manch eine Frau möchte ihren Körper aus unterschiedlichen Gründen nicht mit einem ungeborenen Baby teilen. Sie entscheidet sich eigenmächtig für einen Schwangerschaftsabbruch und nimmt damit ihr Recht auf Selbstbestimmung wahr. Das ist korrekt. Weiterhin schwierig bleibt die Frage, ob das Selbstbestimmungsrecht der Frau über das Lebensrecht des vorgeburtlichen Menschen gestellt werden darf. Hierauf gibt es keine einfachen Antworten, denn immer sind individuelle Schicksale damit verknüpft. Basieren sollte die Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts im Kontext eines Schwangerschaftskonflikts aber stets auf offenen Worten und umfassenden Informationen. Der Satz: „Eine Abtreibung entfernt eine leere Fruchtblase“ ist irreführend und manipuliert die Frau in der Wahrnehmung ihres Selbstbestimmungsrechts.
Anders sieht die Situation aus, wenn man an die enorm hohe Anzahl an Schwangerschaftskonflikten denkt, in denen die Frauen keine Möglichkeit haben, selbstbestimmt zu agieren, z. B. weil sie von ihrem Partner, ihrer Familie, Kultur, Religion zu einem Schwangerschaftsabbruch gezwungen werden. Wir wollen nicht müde werden, darauf hinzuweisen, wie oft dies geschieht. Im Jahr 2019 war der Druck von außen (insbesondere des Vaters des Kindes) der am häufigsten genannte Grund für einen in Erwägung gezogenen Schwangerschaftsabbruch. Mit Selbstbestimmung hat das nichts zu tun. Wer hört diese Frauen?
Immer wieder hören wir Berichte von Frauen, die in der Konfliktberatung zu hören bekommen haben: „Nein, Sie brauchen keine psychischen Probleme zu befürchten, die allermeisten Frauen sind zwar ein bisschen traurig nach der Abtreibung, aber vor allem erleichtert.“
Das stimmt. Manchmal jedenfalls. Oft stellt sich bei den meisten Frauen tatsächlich unmittelbar nach dem Eingriff zunächst eine Erleichterung ein. Viele Frauen, die abgetrieben haben, berichten aber später, dass sie ihr Baby nicht mehr vergessen können. Manche können den Schmerz eine Zeitlang gut verdrängen. Andere brechen sofort in Tränen aus, wenn sie aus der Narkose erwachen. Betroffene Frauen berichten, dass sich ihr Herz immer wieder vor Trauer zusammenzieht, besonders an dem Tag, an dem das Baby geboren worden wäre, beim Anblick schwangerer Frauen oder beim Lächeln eines Kindes. Sie fragen sich, wie alt ihr Kind nun wäre, ob es ein Junge oder ein Mädchen geworden wäre. Schmerzlich wird ihnen bewusst, dass ihnen ihr wertvolles Kind weggenommen wurde. Viele Frauen sind im Nachhinein überzeugt, dass sie es hätten schaffen können, und bereuen ihre Entscheidung aus tiefstem Herzen.
Wie in den meisten Fragestellungen rund um den Schwangerschaftsabbruch gibt es auch in der Frage „seelische Folgen einer Abtreibung“ kein Richtig oder Falsch, kein Schwarz oder Weiß. Die Konsequenzen einer Abtreibung sind so mannigfaltig wie die Persönlichkeiten der betroffenen Frauen selbst. Sie stehen in der Gefahr, entweder zu stark betont oder aber zu stark bagatellisiert zu werden.
Einige Frauen erleben die Abtreibung aus unterschiedlichen Gründen aber in der Tat traumatisch, z. B. weil sie vom Partner dazu genötigt wurden oder weil sie den Abbruch als gewaltsamen Eingriff in ihre Intimsphäre wahrgenommen haben. Dies kann teilweise heftige Symptome verursachen, die denen einer Posttraumatischen Belastungsstörung ähneln.
„Die Männer sollen sich raushalten!“ „No uterus no choice!“, „Das geht dich gar nichts an!“ Doch ist das so? Geht es den Mann eigentlich wirklich gar nichts an, wenn sein Kind im Bauch seiner Partnerin heranwächst?
Auch hier gibt es keine einfache Lösung.
Natürlich kann sich der Mann nicht über die Entscheidung der Frau hinwegsetzen und in ihr Selbstbestimmungsrecht eingreifen. Doch auch der Vater des Kindes darf sich für sein Kind entscheiden, er darf tangiert werden, und selbstverständlich geht es ihn etwas an, ob sein Kind leben oder sterben wird.
Der Vater des Kindes spielt tatsächlich sogar eine zentrale Rolle im Schwangerschaftskonflikt. Es macht einen Unterschied für sehr viele Frauen, ob ihr Partner mit ihr „durch dick und dünn“ geht, ob er ihr den Rücken stärkt, signalisiert, dass ihm das Kind willkommen ist – oder ob er im besten Fall gleichgültig mit den Schultern zuckt und „die Qual der Wahl“ seiner Partnerin überlässt, im schlimmsten Fall sogar mit Ablehnung der Frau und Nötigung zur Abtreibung reagiert.
Du als Vater spielst eine entscheidende Rolle, wenn deine Frau ungeplant schwanger geworden ist. Übernimm deine Verantwortung und sei für deine Frau da! Sie braucht dich jetzt mehr denn je.
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